Bibelhandschriften ✛
die Bibel aktuell | 13
Die Jesajarolle aus Qumran
Auf der Website des Israel-Museums fi ndet sich eine Ab bildung der
berühmten Jesajahandschrift. Die Rolle lässt sich am Bildschirm
virtuell aufrollen, anschauen und lesen. Markierte Passagen wurden
ins Englische übertragen:
http://dss.collections.imj.org.il/isaiah
Bezeichnung der Handschriften
Jede biblische Schriftrolle vom Toten Meer wird nach einem
bestimmten System gekennzeichnet: Nummer der Höhle, Fundort
(Q = Qumran, Hev = Nahal Hever, Mas = Masada, Mur =
Wadi Murabba‘at), Bibeltext (Gen = Genesis, etc., XII = Zwölfprophetenbuch).
Weitere Kennzeichnungen können hinzutreten
(pap = Papyrusfragment, palaeo = althebräische Schrift,
LXX = Septuanginta, tg = Targum, p = Pescher).
Danach bedeutet 4QpalaeoExm Handschrift „m“ des Exodusbuches
in althebräischer Schrift aus Höhle 4 von Qumran.
Qumran fand man zwei Fragmente (4QJerb und 4QJerd).
Sie belegen, dass die Übersetzer einen hebräischen Text
benutzten, in dem tatsächlich nur die kürzere Fassung des
Jeremiabuchs stand. Im 3. Jahrhundert v. Chr. gab es also
mindestens zwei unterschiedliche Ausgaben des Jeremiabuchs.
Auch bei anderen biblischen Büchern zeigte sich,
dass von ihnen zwei oder mehrere Ausgaben in Umlauf
waren, bevor sich diejenige Textfassung durchsetzte, die
heute in der hebräischen Bibel steht und den modernen
Bibelübersetzungen zugrunde liegt.
Gott von anderen Göttern umgeben
Mit den Qumranhandschrift en blicken wir damit in eine
Zeit, in der die Bibeltexte noch nicht endgültig festgelegt
waren. Nicht alle Texte wurden buchstabengetreu abgeschrieben.
Der Inhalt war vielen Schreibern wichtiger als
der genaue Wortlaut. Und so lassen sich in den Qumranfragmenten
Lesarten entdecken, die bislang unbekannt
gewesen sind. In Einzelfällen stößt man sogar auf Texte,
die einen älteren als den uns überlieferten Bibeltext bewahren.
Ein besonders interessantes Beispiel fi ndet sich
im Moselied. Auf dem Schnipsel der Qumranrolle 4QDtnq
ist zu lesen: „Preist, ihr himmlischen Wesen, sein Volk, /
und werft euch vor ihm nieder, all ihr Götter“ (5.Mos/
Dtn 32,43). Dahinter steht die alte Vorstellung, dass Gott von
himmlischen Wesen und anderen Göttern umgeben war,
die weniger Macht hatten. Diese geringeren Götter sollten
nun das Volk Israel preisen und sich vor ihm beugen. Doch
der Schreiber, auf den der heutige Bibeltext zurückgeht, hat
sich daran gestört. Er war off enbar der Meinung, dass dieser
Vers mit dem Monotheismus nicht vereinbar sei. Deshalb
hat er den Text gekürzt: „Preist, ihr Völker, sein Volk!“ lautet
jetzt der Bibeltext. Und man erkennt: Der Schreiber hat die
himmlischen Wesen durch die irdischen Völker ersetzt und
die zweite Vershälft e mit den anderen Göttern ganz gestrichen.
Das Qumranfragment gibt somit einen interessanten
Einblick in die Vorgeschichte dieses Bibeltexts.
Was macht der Löwe auf dem Wachturm?
Kein einziges biblisches Buch ist im Original erhalten,
auch nicht in den Handschrift en von Qumran. Der Bibeltext
ist nur in einer Vielzahl von Kopien überliefert,
die über Jahrhunderte wieder und wieder abgeschrieben
wurden. Dabei konnten sich auch eine Menge an
Schreibfehlern einschleichen: Ein Wort wird vergessen,
vertauscht oder verkehrt geschrieben. Doch mit den Qumranhandschrift
en besitzen wir jetzt eine Reihe sehr alter
Textzeugen. Sie sind alle zwischen dem 3. Jh. v. Chr. und
dem 1. Jh. n. Chr. geschrieben und können dabei helfen,
überlieferungsbedingte Textfehler aufzuklären.
Beispielsweise steht im hebräischen Text des Buches
Jesaja: „Da rief ein Löwe: Auf dem Wachturm stehe ich,
mein Herr“ (Jes 21,8). Davor wird berichtet, dass Gott dem
Propheten befohlen hatte, einen Wachposten aufzustellen.
Der zitierte Vers ist korrekt aus dem hebräischen Text
übersetzt. Aber was soll er bedeuten? Die Zweifel sind
nie verstummt, dass der Löwe auf dem Wachturm erst
durch einen Schreibfehler zum Leben erweckt wurde.
Bereits im 19. Jahrhundert haben Wissenschaft ler einen
Überlieferungsfehler vermutet und vorgeschlagen, man
solle anstelle des Löwen lesen: „Da rief der Prophet: Auf
dem Wachturm stehe ich, mein Herr!“ Denn die Fehlschreibung
„Löwe“ könnte nur zu leicht durch Umstellung
zweier Buchstaben aus dem hebräischen Wort entstanden
sein. Aber das war bloß eine Vermutung und ohne jeden
Textzeugen – bis zur die Entdeckung der Jesajarolle von
Qumran aus dem 2. Jh. v. Chr. (1QJesa). Die stürzte den
Löwen endgültig vom Sockel, denn es heißt tatsächlich
„der Seher“ und bestätigt damit, dass kein Löwe auf dem
Wachturm stand, sondern der Prophet selbst.
Dr. theol. habil. Alexander A. Fischer
ist Verlagslektor und Übersetzer der
BasisBibel bei der Deutschen Bibelgesellschaft
. Er ist Autor einer Einführung
in die Hebräische Bibel mit einem
Kapitel über Qumran und 48 Abbildungen
alter Bibelhandschrift en:
„Der Text des Alten Testaments“.
http://shop.bibelgesellschaft .at/
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