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✛ Die Bibel ausgelegt Jesus sieht uns rudern Ist es eine Kunst, übers Wasser zu laufen? Vor kurzem konnte man drei Kilometer über den Iseo-See in Norditalien wandern. Der Künstler Christo hat einen Weg aus Hohlraumwürfeln, leuchtend orange bespannt, als Kunstwerk bauen lassen. Schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen aus aller Welt haben die Gelegenheit genutzt, über das Wasser zu gehen. Ist es etwa keine Kunst, über das Wasser zu laufen? Gegen Sturmgefahren hat man Warnanlagen gebaut, Nachtsegelverbote erlassen, gegen die Gefahren der Meere Deiche und Dämme errichtet. Aber eine Nacht auf dem See mit Starkwind, Gewitter und Regen? Da ist es vorbei mit der Orientierung und der Sicherheit des Heimkommens. Das ist der Stoff , aus dem unsere schlechten Träume sind – je mehr wir dagegen ansteuern, desto schlimmer wird es. Unser Leben gleicht diesem sturmgepeitschten Meer, und wir müssen rudern und gegen die Wellen ankämpfen, die uns bedrohen. Wir können tapfer kämpfen, wir werden immer bedroht sein von den Stürmen des Lebens, den Untiefen, den unbekannten Gefahren … 8 | die Bibel aktuell Gleich darauf drängte er seine Jünger, ins Boot zu steigen (…). Am Abend war das Boot mitten auf dem See und er allein an Land. Und als er sieht, wie sie sich beim Rudern abmühen – denn der Wind stand ihnen entgegen –, kommt er um die vierte Nachtwache auf dem See gegangen, und er wollte an ihnen vorübergehen. Als sie ihn auf dem See gehen sahen, meinten sie, es sei ein Gespenst, und schrien auf. Denn alle sahen ihn und erschraken. Doch sogleich redete er mit ihnen, und er sagt zu ihnen: Seid getrost, ich bin es. Fürchtet euch nicht! Und er stieg zu ihnen ins Boot, und der Wind legte sich. Und sie waren entsetzt und fassungslos. Und was begegnet uns vom anderen Ufer her? Ein Mensch, anmutend wie ein Gespenst, eine Stimme, die uns sagt: Fürchte dich nicht. Ich bin’s. Sei getrost. Jesus sah die Not seiner Freunde und kam ihnen entgegen. Damit zeigt er uns, was in den Zeiten der Stürme und der Not wirklich trägt: es ist das Vertrauen darauf, dass wir niemals aus der Hand Gottes fallen. Allein dadurch beruhigt sich der Seegang. In diesem Glauben an die unzerstörbare Liebe Gottes zu uns verliert das Meer, der See, seinen Schrecken; in dieser Zuversicht gewinnt unser Leben an Halt, Orientierung und Gewissheit. Der Künstler Christo hat es denen, die einmal über das Wasser gehen wollen, mit seinen überdimensionalisierten Luft matratzen leichter gemacht – ohne an Wellen, Stürmen oder Untiefen scheitern zu müssen. Keine Kunst. Aber das tiefe Wasser zieht – es will dich immer verschlingen. Der und die Einzelne gerät in Not, Krankheiten bedrohen geregeltes Leben, AlleinerzieherInnen haben es schwer, Bauern müssen aufgeben, Sklaven werden bis heute gehalten und 65 Millionen sind auf der Flucht vor Krieg, Gewalt, unhaltbaren Lebensumständen. Eine unbekannte Anzahl ertrinkt auf dem Weg übers Mittelmeer, ein Bruchteil erreicht Europa, davon ein geringer Teil Österreich – und trotzdem reden manche davon, dass das Boot voll sei. Solche Wellen scheinen sich hie und da zu verstärken. Es gilt für den einzelnen Menschen wie für die Gemeinschaft und die Kirche, die ja oft als Boot dargestellt wird: Unser ausgesetztes Rudern, unser Wackeln in einem see- und lebensuntüchtigen Boot – wir können mit Gott diese Zustände überschreiten, wörtlich „übergehen“, auf einem Weg der Geborgenheit und des Vertrauens, der uns heilt und wohltut. Eine Kunst?! Aber wir können! Dieser Beitrag ist auch in SAAT 8/2016, S. 16, erschienen. OKR Prof. Mag. Karl Schiefermair vertritt die Evangelische Kirche A. B. in der Vollversammlung der Österreichischen Bibelgesellschaft . (Aus Markus 6,45-51, Zürcher Bibel) Christo and Jeanne-Claude The Floating Piers, Lake Iseo, Italy, 2014–16 Foto: Karin Matouschek


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