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Die Bibel ausgelegt ✛ Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte. Psalm 103,8 (Lutherbibel 2017) Eine Beschreibung des Wesens Gottes in drei ganz unterschiedlichen Zusammenhängen: in der Gebetssprache eines Psalms als Ausdruck des Lobes und der Dankbarkeit, als Hinweis darauf, wer dieser Gott ist, der dem Volk Israel die Gebote übermittelt, und als Erkenntnis eines Propheten, der schon im Vorhinein weiß, dass Gott nicht über seinen Schatten springen kann und die Bibel aktuell | 9 Je länger ich in der Bibel lese, desto mehr fällt mir auf, wie sehr die Bibel mit sich selbst im Gespräch ist. Habe ich in früheren Jahren eher auf einzelne Geschichten und ihre Pointen geachtet, so entdecke ich zunehmend, wie manche Redewendungen und Anklänge an anderen Stellen der Bibel aufgegriff en, neu gedeutet oder in einen neuen Zusammenhang gestellt werden. Eines der biblischen Worte, das mich in dieser Hinsicht fasziniert, ist die Beschreibung Gottes als „barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte“. Es wird Gottes Wesen beschrieben, der doch anders handelt als wir Menschen es von ihm erwarten, nicht im Zorn und Eifer, sondern mit Geduld, Gnade und Barmherzigkeit. Am vertrautesten ist mir diese Aussage aus Psalm 103,8. Gerne feiere ich die Abendmahlsliturgie, in der Ausschnitte aus diesem Psalm im Wechsel gebetet werden. Es tut gut, mir zusprechen zu lassen, dass Gott meiner Sünde mit Gnade begegnet und dass sein Erbarmen stets gilt. Entdeckt habe ich diese Aussage auch in 2. Mose 34,6. Nach der Anbetung des selbst angefertigten Stierbildes durch die Israeliten und der zornigen Reaktion des Mose, kommt es zu einem erneuten Bund zwischen Gott und dem Volk Israel. In der Begegnung mit Gott spricht Mose: „Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue.“ Es ist, als ob er kaum fassen könnte, dass sich Gott nicht erbittern lässt und nach wie vor in Treue zu seinem Volk steht. Mit Schmunzeln nehme ich zur Kenntnis, dass Jona Gott zum Vorwurf macht, dass er ist, wie er ist: gnädig, barmherzig, langmütig und gütig. Der Prophet muss der Bevölkerung der Stadt Ninive den Untergang ansagen, weil sie sich gottlos benommen hat. Nachdem der Versuch, sich dieser Aufgabe zu entziehen, im Bauch eines Fisches endet, bewirkt seine Verkündigung eine große Umkehrbewegung unter den Menschen (und dem Vieh!). Nun ist Jona aber enttäuscht, dass es nicht zum großen Showdown kommt, sondern dass Gott die Bewohner der Stadt verschont. Darauf sagt Jona: „Ach, Herr, das ist‘s ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Lande war. Deshalb wollte ich ja nach Tarsis fl iehen; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen.“ (Jona 4,2) Würde ich in der Schule oder auf der Straße fragen, wo diese Beschreibung Gottes zu fi nden ist, so würde die Antwort wohl lauten: im Neuen Testament. Ja, im Neuen Testament wird in vielfältiger Weise darauf Bezug genommen, z. B. im Hohen Lied der Liebe aus 1. Korinther 13 oder in der Spitzenaussage des Johannesevangeliums, dass im Wort, das Fleisch geworden ist, die Gnade und Wahrheit Gottes erkennbar wird (Joh 1,14 und 17). Doch der Anfang des Erkennens, wer und wie Gott ist, liegt im Glauben des Volkes Israel. Pastorin Mag. Esther Handschin (Evangelisch-methodistische Kirche) ist Mitglied in der Vollversammlung der Österreichischen Bibelgesellschaft . bei seinem Handeln aus Gnade und Barmherzigkeit bleibt. Foto: Klaus-Ulrich Ruof Martha Kapetanakou-Xynopoulou: Jona unter dem Rizinus (Jona 4)


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