DIE BIBEL AUSGELEGT 11
So darf der Heranwachsende erstmals mit zum Passa-
Fest, nur um dort anscheinend verloren zu gehen. Die
Eltern sind entsetzt, als sie Jesus im Tempel zwischen
den Gelehrten finden - zu Recht, nach einer dreitägigen
verzweifelten Suche. Doch ist Entsetzen in der Bibel
auch eine typische Reaktion der Menschen, wenn sie in
Kontakt mit Gott oder dem Göttlichen kommen. Fast
schon provokativ fragt Jesus seine Eltern: „Wieso habt
ihr mich gesucht? Habt ihr denn nicht gewusst, dass ich
im Haus meines Vaters sein muss?“ (Lk 2,49). Ist dies die
Aussage eines aufmüpfigen Teenagers, oder eines jungen
Menschen, der die Nähe zu Gott und nach Antworten in
der Schrift sucht?
Jesus ist mit Gott verbunden. Durch seinen ersten ge-sprochenen
Satz, der im Evangelium überliefert ist, gibt
er sich als der Menschensohn zu erkennen. Zwar wurde
der Tempel als Heimstätte Gottes verstanden, doch die-ser
verweilt nicht allein in einem Gebäude. Gott und sein
Reich, welches der Christus verkündigen wird (Lk 4,43),
lassen sich nicht mit Mauern fassen. Sie finden sich in
der Gemeinschaft jener, die in Gottes Namen zusam-menkommen
und nach seiner Weisheit streben. Dies war
ganz im Sinne des jungen Salomos, der Gott um Weis-heit
bat (1 Kön 3,9) und schließlich den Tempel errichten
ließ (1 Kön 6). Darum saß Jesus dort, mitten unter den
Lehrern. Diese wiederum waren beeindruckt von seiner
Neugier, seiner Aufmerksamkeit und seinen klugen Fra-gen.
Es lohnte sich, diesem Jungen zuzuhören!
AUSPROBIEREN UND WIDERSTÄNDIG-SEIN
Heute wird immer wieder der „Kampf der Generationen“
ausgerufen. Alt und Jung seien inkompatibel, wenn es
um Themen des Glaubens, der Politik, des Klimas oder
des Zusammenlebens gehe. Verächtlich werden junge
Menschen von oben herab belächelt, weil sie für eine
bessere Zukunft oder eine gerechtere Welt kämpfen, je-doch
nicht alle Lösungen bereits benennen können. Doch
welche Weisheit steckt bereits in diesen Fragen!
Die Jugend ist der Beginn der Suche nach Antworten, ein
Aufbruch, um die Welt zu verstehen und besser zu ma-chen.
„Strebt vor allem anderen nach seinem Reich und
nach seiner Gerechtigkeit“, heißt es bei Matthäus
(Mt 6,33) – gehört dazu nicht gerade das jugendliche
Fragen, Ausprobieren, Widerständig-Sein?
Selbst Jesus wird am Ende des Berichts zugestanden,
nicht alle Antworten zu haben. Er darf, fürs Erste, jung
bleiben. Er folgt seinen Eltern gehorsam nach Nazaret
zurück, wo es schließlich heißt: „Jesus wuchs heran. Er
wurde älter und weiser. Gott und die Menschen hatten
ihre Freude an ihm.“ (Lk 2,52)
GOTT WAR AUCH JUNGER MENSCH!
Gott ist Mensch geworden. Um das Ausmaß dieser
Botschaft verstehen zu können, reicht es nicht, an einen
bärtigen Mann um die 30 zu denken. Wenn Gott wirklich
Mensch wurde, dann musste er auch neugieriges Kind
und hinterfragender Jugendlicher sein. Diese Gewiss-heit
ist wertvoll und auch tröstlich, gerade für heutige
junge Menschen. Aus ihrer Perspektive betrachten wir
Jesus nur selten. Ist es nicht authentisch, dass Gott
derart Mensch wurde, dass er mit zwölf ausriss und sich
für einen kurzen Moment im Tempel auch seinen Eltern
widersetzte? Ist es nicht schön, dass auch einmal die
Lehrenden einem jungen Menschen voll Erstaunen zu-hören
mussten? Durch sein Fragen und Forschen wuchs
Jesus in der Weisheit, die er als Wanderprediger aus-strahlte
(Mk 6,2).
Jesus gewinnt als Zwölfjähriger langsam seine Freiheit,
um zu dem zu werden, der seinerseits den Kindern das
Reich Gottes zusprechen wird (Lk 18,16). Weder Josef
und Maria noch wir, als heutige Erwachsene, können
Christus für uns vereinnahmen. Doch wir können, wie
uns der Text zeigt, unsere Freude an ihm und an den
Fragen der Jugend haben.
„
IST ES NICHT SCHÖN,
DASS AUCH EINMAL DIE
LEHRENDEN EINEM JUNGEN
MENSCHEN VOLL ERSTAUNEN
ZUHÖREN MUSSTEN?
Stefan Haider ist evang.
Theologe. Er betreut
seit 2014 im Bibelzent-rum
Schulklassen aus dem
höheren Schulbereich und
Erwachsenengruppen.
Foto: Nora Matern