Ein wacher Geist bekommt Karolin Jaggler kennt in Matrei in Osttirol viele Leute. Die junge Frau geht gern auf
Menschen zu und tauscht sich mit ihnen aus – mittels Blicken und einigen wenigen
Worten, etwa auf dem Weg zur Arbeit. Ihr Unterstützungsbedarf ist hoch.
Karolin Jaggler sitzt im Rollstuhl an einem
Tisch und bemalt eine Stofftasche. Mit einer
Hand hält sie den Pinsel fest umklammert
und führt ihn konzentriert über den Stoff.
Die Tasche ist mit Klebebändern am Tisch
fixiert, damit sie nicht verrutscht. Denn die
zweite Hand gehorcht ihr nicht. Eine Assistentin
hält ihr zwei Dosen mit Farbe hin.
Karolin Jaggler wehrt ab. Offensichtlich passen
beide nicht zu dem Motiv, das sie im
Kopf hat. „Karolin hat ein gutes Farbgefühl“,
erklärt ihre Assistentin Brigitte Groder, „und
sie weiß, was sie will.“ Die Frau im Rollstuhl
schaut sie an und nickt. Die Farbtöne, die sie
schließlich wählt, passen auch wirklich besser
zu den blauen Wellen auf der Tasche.
Achtsam nimmt sie Farbe auf, wischt den
Pinsel ab und malt helle Gischt auf die Wellenberge.
„Wassa“, sagt sie und lächelt.
Alles im Blick
Die Osttirolerin liebt das Wasser und verbindet
Urlaub immer mit dem Meer, erklärt die
Assistentin. „I Wassa“ sagt sie oft, wenn sie
vom Urlaub am Meer berichtet. „Wer Karo
zum ersten Mal mit der Spastik sieht und
ihre Laute hört, unterschätzt sie“, sagt die
Assistentin überzeugt und beschreibt, wie
hilfreich die aufmerksame Frau im Rollstuhl
oft ist.
Als sich eine Kollegin einmal verschluckt
und selbst keinen Ton hervorbringt, wird
Karolin Jaggler sofort laut und holt auf
diese Weise Hilfe. Auch mitten im morgendlichen
Arbeitstrubel bemerkt sie als erste
die Ankunft eines Busses und macht die
Assistentin darauf aufmerksam, die Neuankömmlinge
an der Tür zu empfangen und
ihre Temperatur zu messen. Und natürlich
hat Karolin Jaggler ihre eigenen Therapietermine
stets im Blick und mahnt alle, sie
nicht zu übersehen. „Wenn ich sie bitte, mich
an etwas Wichtiges zu erinnern, kann ich
mich darauf verlassen. Dann denkt sie sicher
daran!“, ist die Arbeitsassistentin überzeugt.
Feine Antennen
„Karo ist sehr feinfühlig. Sie hat Antennen:
Wenn eine Mitbewohnerin einen epileptischen
Anfall bekommt, spürt sie das schon
im Vorfeld und gibt Alarm“, berichtet ein
Assistent. Auch wenn er einmal mit Sorgen
in den Dienst kommt, merkt sie das
ohne Worte. „Da ist sie weniger anspruchsvoll.
Im Gegenteil: Sie streckt mir ihre Hand
entgegen, drückt mich und zeigt mir damit
ihr Mitgefühl.“ Sie merkt auch, ob man im
Kontakt mit ihr aufmerksam ist: „Wenn ich
mal nur ‚Ja‘ sage, weil ich die Unterhaltung
abkürzen will, sorgt sie dafür, dass ich sie
wirklich verstehe!“
Diese Beobachtungsgabe trainiert sie
von klein auf. In ihrem Heimatort Huben,
im Urlaub am Meer, im Café oder im
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