Dorfgasthaus – überall saugt sie Eindrücke
auf und berichtet auf ihre Art von ihren
Erlebnissen. Aus diesem Grund fährt sie
in letzter Zeit lieber mit dem Rollstuhl zur
Arbeit. Sie kennt den Weg und wählt mit
ihrer Begleiterin die Route, wo sie Menschen
begegnet und mitbekommt, was sich im Ort
abspielt.
Anpacken
Am Arbeitsplatz und in der Wohngemeinschaft
übernimmt die 38-Jährige möglichst
viele Handgriffe selbst. Sie bringt das Handtuch
zurück an seinen Platz, sie schaltet
das Licht aus, sie löst mit einer Hand beide
Bremsen ihres Rollstuhls oder öffnet den
Gurt selbst.
Obwohl sie beim Anziehen und Zubettgehen
immer auf Unterstützung angewiesen
ist, erledigt sie so viel wie möglich eigenständig.
Selbst beim Aussortieren der
Wäsche oder beim Staubsaugen leistet sie
ihren Beitrag und saugt, soweit es ihr möglich
ist.
Das war nicht immer so, erinnert sich
die Assistentin Cornelia Weiskopf. „Als
sie von daheim in die Wohngemeinschaft
übersiedelte, war sie verunsichert und
schüchtern. Wenn wir ihr das Essen eingaben,
wie sie es von daheim gewohnt war,
reagierte sie sehr sensibel. Karo war damals
ängstlich, krampfte und schrie, wenn ihre
Ärztin sie berühren wollte.“ Sicherheit gab es
ihr, wenn ihr jemand die Hand hielt. Mit der
Zeit schloss sie neue Freundschaften, fasste
Vertrauen. Heute verwendet sie beim Essen
einen Teller mit hohem Rand, eine rutschfeste
Unterlage und Besteck mit dicken
Griffen. Damit löffelt sie so routiniert, dass
nur wenig daneben geht.
„Karo merkt, wenn wir ihr etwas
zutrauen. S Sie übernimmt immer mehr Aufgaben
oder regelt ihre Angelegenheiten
selbst“, erklärt eine Assistentin, die sie
ermutigt, dem neuen Zivildiener selbst zu
sagen, wenn eine Fahrt zur Therapie ansteht.
Sich mitzuteilen, kostet Karolin Jaggler Zeit
und Mühe. Aber sie sieht, wie es die anderen
machen, und letztlich will sie das auch.
„Zurzeit probieren wir, dass sie die Strecke
vom Wohnzimmer in die Küche alleine fährt“,
berichtet eine Begleiterin, die seit 16 Jahren
an Karolin Jagglers Seite ist. „Karo ist ehrgeizig
und müht sich ab. Aber wenn sie ans Ziel
kommt, ist sie stolz.“
Dazugehören
Wie alle Kinder wollte Karolin Jaggler immer
mit ihren Geschwistern mithalten. „Als
ihre kleine Schwester ein Radio geschenkt
bekommen hat, rief sie zum ersten Mal
‚I a!‘ Als sie dann ein eigenes bekam, hatte
sie eine große Freude damit“, berichtet ihre
Mutter. Den Wunsch, es den erwachsenen
Schwestern gleichzutun, hat Karolin Jaggler
immer noch. Sie will es daheim ordentlich
haben. Mit einem Blick sieht sie, wenn
ein Vorhang nicht am Platz ist, eine Kastentür
einen Spalt offensteht oder ihr Rollstuhl
nicht akkurat am Tisch steht. Dann rückt sie
zurecht, was sie kann, oder bittet die Assistent/
innen, es zu tun. „Und sie will fesch
beinand sein“, attestiert ein Begleiter. „Sie
wählt ihre Kleidung selber aus. Sie erinnert
uns, wenn irgendwo ein Reißverschluss
offen ist und achtet auf ihre Frisur.“ Von
ihrer Assistentin lässt sie sich Zöpfe ins Haar
flechten und kontrolliert die Frisur im Spiegel.
Dann lächelt sie und sagt damit: „Danke!
Gut gemacht!“.
Karolin Jaggler hat
hohen Unterstützungsbedarf.
Trotz
ihrer Schwiergkeiten
bekommt sie alles mit
und bringt sich mutig
ein. Assistent/innen
fertigen Wörterbücher
und Speisekarten mit
Bildern an. Das hilft
ihr und manchen Mitbewohner/
innen, sich
im Gasthaus und im
Urlaub mitzuteilen.
Im Gasthaus, im Café, im Urlaub: Karolin Jaggler erkundet die Welt mit ihren Augen.
Was sie erlebt hat, versucht sie, den Daheimgebliebenen zu erzählen – so gut es geht.
Foto: Stefan Wibmer
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