Marcus Zoller betritt sein stilles Reich durch seinen eigenen Eingang
Landeck Seitdem Marcus Zoller allein
wohnt, ist er ruhiger und entspannter.
Denn in seiner Wohnung bestimmt jetzt
er das Tempo. Zuvor lebte er 18 Jahre
lang mit acht Mitbewohner/innen in
einem Haushalt. Wenn diese morgens
zur Arbeit gingen oder am Nachmittag
zurückkehrten, war es entsprechend
laut. Dieser Trubel und die vielen Reize
überforderten den heute 34-Jährigen.
In seiner Ohnmacht begann er sich zu
beißen, schlug sich selbst die Hand
ins Gesicht oder stupfte sich am Hals,
bis er wund war. „Marcus spricht ohne
Worte. Aber man merkt, was für ihn
stimmig ist und was nicht“, erläutert
Assistent Michael Spleit.
Einsatz für Inklusion
Foto Michael Spleit
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Diese Selbstverletzungen sind seltener
geworden, seit Marcus Zoller das
Haus über einen eigenen Eingang im
Garten betritt und sich in seiner Wohnung
jederzeit zurückziehen kann: Am
Konsequent Barrieren beseitigt
Kufstein Obwohl Birgit Pickert eine
behütete Kindheit hatte, lernte sie
als Rollstuhlfahrerin früh, Hindernisse
zu überwinden. Als 30-Jährige
übersiedelt sie mit ihren Eltern nach
Tirol. „Das war ein Kulturschock“, sagt
sie. Später zieht sie von daheim in ein
Lebenshilfe-Wohnhaus und beginnt,
als Sekretärin in der Lebenshilfe zu
arbeiten. Ob im Stadtbus von Kufstein
oder im wenig rollstuhlgerechten Hotel
im Urlaub: Wenn Birgit Pickert auf Barrieren
stößt, scheut sie sich nicht, die
Verantwortlichen anzusprechen. Als
es ihr im Wohnhaus zu eng wird, übersiedelt
sie 2010 in eine ebenerdige
Wohnung und lernt dort, den Haushalt
selbst zu führen. „Anfangs hatte ich
schon Angst, das Vertraute zu verlassen
und alleine zu leben. Aber da bin
ich aufgewacht und bin erwachsener
geworden“, erklärt Birgit Pickert. „Heute
entscheide ich selber, dass ich mich
impfen lasse.“ Dass sie die Terrasse
wegen einer Schwelle nicht erreichen
konnte, akzeptierte sie anfangs. Im
Corona-Lockdown aber setzte sie alles
in Bewegung, bis auch diese Tür durch
eine barrierefreie ersetzt wurde. Heute
dankt sie den Spender/innen.
An der Supermarktkassa kommen eine
Frau und ein Klient ins Gespräch.
Nach einer Unterhaltung über das
aktuelle „Sauwetter“ erzählt er
ihr, wo er arbeitet, was er in
der Bücherei erlebt, was
er in der Wäscherei macht
und dass es dort Feueralarm
gab. Die gestresste Kassierin verdreht
die Augen und fordert die Frau auf,
weiterzumachen, anstatt sich seine
Belanglosigkeiten anzuhören. Der Klient
nimmt es hin und meint: „Die ist
öfter so mit mir“. Die beherzte Frau
aber ergreift Partei. Sie erklärt der
Mitarbeiterin und der Unternehmensleitung:
„Egal, ob jemand dick, dünn
oder gesprächig ist: Kunden gehören
akzeptiert, wie sie sind, und nicht
unwirsch behandelt!“
Morgen plätschert der Mann gemütlich
in der Badewanne. Und beim Frühstück
bleibt er jetzt gern länger sitzen,
anstatt gestresst aufzustehen oder aus
dem Haus zu laufen. Wenn er heute
Gesellschaft sucht, geht er in den oberen
Stock und legt sich auf die Couch,
die er von früher kennt. Und wenn er
genug hat, zieht er sich zurück.
„Seit 2012 hat die Lebenshilfe in
Tirol zehn Wohnhäuser zu Kleinwohnungen
umgebaut. Damit verwirklichen wir
das Menschenrecht auf Privatsphäre“,
so Geschäftsführer Georg Willeit.
Birgit Pickert hat sich im Lockdown für
eine barrierefreie Terrassentür eingesetzt.
In seiner neuen Wohnung kann Marcus Zoller selbst steuern, wann er sich zurückzieht.
Wie normal ist das denn...
Foto: Sandra Pipperger