
Erinnerungen: die Kammerschauspielerin
Nicht nach dem Äußeren urteilen
Ihre Schwester, ihre Nachbarn und Menschen aus der Lebenshilfe haben Julia
Gschnitzer gelehrt, aufmerksamer auf Menschen zu achten.
Hanna Kamrat: Frau Gschnitzer, sind Ihnen als
Schauspielerin Barrieren in Erinnerung, die Sie
oder Kolleginnen überwinden?
Julia Gschnitzer: Zu einem gewissen Grad ist
jede Rolle eine Hürde. Man kann ja nicht alles
schon erlebt haben, was man auf der Bühne
darstellen muss. Also brauche ich meine
ganze Fantasie, um mich da hineinzudenken.
Mit dieser Bereitschaft, Neugierde
und Offenheit versuche ich auch auf
Menschen zuzugehen. Denn ein Schauspieler,
der nicht sensibel ist, kann nicht
nachfühlen.
H.K.: Wenn wir an den Beginn der Lebenshilfe
zurückblicken: Was hat sich seither verändert?
J.G.: Ich habe im Nationalsozialismus erlebt, was
mit Menschen mit Behinderungen in der Nachbarschaft
geschehen ist. Ich hab’s als Kind nicht
ganz begriffen, aber es hat mich zu Tode erschüttert
und für den Umgang mit Menschen
mit Behinderung sensibilisiert. Seither hat sich
einiges entwickelt. Aber erst in den letzten 20
Jahren tut man wirklich etwas oder versucht,
Betroffene ernst zu nehmen. Es sucht sich ja
niemand eine körperliche oder geistige Behinderung
aus. Wenn Menschen ihr Leben meistern,
gebührt ihnen der größte Respekt.
H.K.: Wenn Sie eine Woche im Rollstuhl wären,
was würden Sie sich von anderen
wünschen?
J.G.: Noch heute haben viele Hemmungen,
wenn sie mit Menschen mit Behinderung
zu tun haben, statt sie anzunehmen.
Wenn ich in so einer Situation wäre, möchte
ich nicht bemitleidet, sondern akzeptiert werden,
wie ich bin.
H.K.: Wenn ich einkaufe oder zahlen will, sprechen
Verkäuferinnen meist mit meiner Begleiterin
statt mit mir und trauen mir oft nichts zu.
J.G.: Die Gesellschaft ist da offensichtlich immer
8 LEBENS.WELT 03.17
Julia
Gschnitzer im Gespräch mit
Hanna Kamrat