DIE BIBEL AUSGELEGT 11
dern auch psychisch. Das Lebensgebäude des Paulus war
zusammengebrochen. Es ist bezeichnend, dass er auf
einmal im Finstern tappt und sich nicht mehr zu orientie-ren
vermag (Apg 9,8).
Kann man dieses gewaltsame Handeln Gottes, mit dem
er Paulus gegen die Wand laufen lässt, als barmherzig
bezeichnen? Auch wenn es uns widerstreben mag - es
ist Paulus selbst, der dieses Handeln Gottes barmherzig
nennt. Im Rückblick natürlich. Im Augenblick selbst muss
ihn dieses Handeln Gottes heillos verwirrt und bestürzt
haben.
Ich lerne daraus: Barmherzigkeit muss nicht immer so
aussehen, wie ich mir das vorstelle.
Vielleicht habe ich tatsächlich eine falsche Vorstellung
von Barmherzigkeit, wenn ich sie mir vorstelle wie etwas
Weiches, in dem ich versinken kann und das mir keinen
Widerstand entgegensetzt. Das, scheint es, ist Nach-giebigkeit.
Wenn uns Jesus dazu auffordert, barmherzig zu sein,
dann fügt er hinzu: wie auch euer Vater im Himmel
barmherzig ist. Für mich heißt das: Um zu begreifen, was
Barmherzigkeit ist, fange ich nicht bei meinen Vorstel-lungen
und Wünschen an, sondern ich orientiere mich an
dem Handeln Gottes. An ihm lerne ich, was Barmherzig-keit
ist.
VOM SEHENDEN AUGE UND VOM OFFENEN HERZEN
Wo immer wir Gottes barmherzigem Handeln begegnen,
beginnt es mit einer Wahrnehmung. Die Geschichte des
Exodus beginnt damit, dass Gott das Schreien der Kinder
Israel hört (2 Mos/Ex 3,7). Er überhört es nicht, er lässt
es an sich heran. Er lässt zu, dass ihm dieses Schreien an
die Nieren geht, dass sich sein Herz zusammenkrampft.
Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist der ent-scheidende
Punkt die Wahrnehmung. Sowohl der Priester
als auch der Levit sehen den Überfallenen,- und gehen
vorüber. Sie sehen ihn zwar, aber zugleich wollen sie ihn
nicht sehen. Sie lassen dieses Bild, das sich ihnen bietet,
nicht an sich heran. Der Samariter lässt zu, dass dieses
Bild ihn berührt und bewegt.
Barmherzigkeit ist eine warme Tugend. Sprachlich spie-lend
würde ich formulieren: Barmherzigkeit ist die Tu-gend
des „baren Herzens“. Eines Herzens, das offen ist,
das sich nicht verschließt: eines Herzens, das zugänglich
ist. Das Gegenteil ist die Hartherzigkeit, die Kaltherzig-keit.
Da dringt nichts mehr durch, da prallt alles ab. Wer
„bar-herzig“ ist, der ist verletzlich und der macht sich
verletzlich. So wie Gott sich verletzlich macht, als er
Mensch wird und schutzlos unter uns lebt.
GOTT SIEHT TIEFER
Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Empörung
immer wieder hohe Wellen schlägt. Wo jemand einen
Fehler gemacht hat, wo Versagen geschehen ist, da sind
viele zur Stelle, um mit harten Worten zu urteilen. Um
nicht missverstanden zu werden: Wir sollen Unrecht
beim Namen nennen und Gerechtigkeit ist ein Funda-ment
unserer Gesellschaft. Wir nennen Gott gerecht und
tun recht daran.
Aber Gott ist mehr. Dort wo andere zufrieden sehen,
dass der Gerechtigkeit genüge getan wurde, da sieht
Gott den Menschen: das zerbrochene Leben, den Docht,
der am Erlöschen ist. Er sieht die Bedrückten und Be-lasteten,
ihre Not und Hilflosigkeit und Schuld berührt
sein Herz.
Nichts ist schlimmer für ihn, als sehen zu müssen, wie
seine Geschöpfe, die er zur Größe, zu Freiheit und Liebe
geschaffen hat, sich selbst und andere beschädigen und
zerstören.
Und manchmal stellt er dann ein Stopp-Schild auf, wie
bei Paulus. Und manchmal geschieht es, dass ein Vater
seinen Sohn in die Arme schließt (Lk 15,20). Und manch-mal
erscheint ein Samariter und verbindet die Wunden
(Lk 10,33-35). Immer zielt die Barmherzigkeit darauf,
es dem Menschen möglich zu machen, aus ausweglo-sen
Situationen wieder herauszukommen. Immer zielt
Barmherzigkeit darauf, neu anzufangen auf dem Weg,
ein Mensch zu werden nach dem Bilde Gottes.
Barmherzigkeit hat viele Gesichter. Wo immer wir sie
tun, tun wir Gottes Werk.
Superintendent
Dr. Gerold Lehner ist
seit 2016 Präsident der
Österreichischen Bibel-gesellschaft.
Foto: Rupprecht