DIE BIBEL AUSGELEGT 11
wäre Gott abwesend und würde ihr Schreien: „Wie lange
noch?“, „Warum?“, nicht hören. Gerade unter solchen,
scheinbar aussichtslosen Umständen, hat sich der,
dessen Name auch Immanuel ist, niemals als abwesend
erwiesen, wenn er auch seine eigenen Wege wählt.
Viele Mitglieder der traditionellen christlichen Kirchen in
Asien erinnern sich 2019 dankbar an das hundertjährige
Jubiläum der Fertigstellung der hoch geschätzten
Chinese Union Version-Bibel. Gottes Zusage, dass sich
sein Wort immer wieder behauptet, zeigt sich besonders
in China - und das trotz der besonderen gesellschaftli-chen
Struktur und seiner schwierigen Geschichte.
Das unterdrückende internationale Machtgefüge im
gespaltenen China führte während der beiden Opium-
Kriege zur Öffnung der Qing-Dynastie und zur
Ausbeutung und Demütigung von China in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es war kein Zufall, dass
1823 die Britische und Ausländische Bibelgesellschaft die
erste Bibel im klassischen Chinesisch nur in Malakka in
Malaysia drucken lassen konnte.
Der Beschluss der zweiten Missionskonferenz 1890 in
Shanghai, die Arbeit an drei Bibelübersetzungen fortzu-setzen,
unter denen sich auch das damals entstehende
umgangssprachliche Chinesisch befand, zeigt, wie Gott
in aller Stille die Dinge zusammenführt. So ein Projekt
schien unmöglich. Wie sollte eine Übersetzung, die alle
Volksgruppen, christlichen Konfessionen und theo-
logischen Überzeugungen zufriedenstellt, zustande
kommen? Und doch gelang es - ohne jede kirchliche
Autorität.
Innerhalb von China braute sich der große Konflikt zwi-schen
denen, die das klassische Chinesisch beibehalten
wollten, und denjenigen, die das modernere Chinesisch
bevorzugten, zusammen. Es brauchte fast 30 Jahre
kontinuierliche Arbeit abseits der Öffentlichkeit, um
die Bibel in eine Sprachform zu übersetzen, die einmal
eine der Sprachen werden würde, die von der größten
Bevölkerungsgruppe und den meisten Christen weltweit
gesprochen werden würde.
Am 22. April 1919 wurde die Chinese Union Version-
Bibel endlich veröffentlicht, nicht einmal zwei Wochen
vor der Bewegung des 4. Mai, mit der das moderne China
entstand. Es hätte gar nicht früher passieren können!
Die Ereignisse und Entwicklungen in China nach dem
4. Mai, die auf der schicksalshaften Entscheidung der
Pariser Friedenskonferenz beruhen, der anschließen-de
Bürgerkrieg innerhalb von China, die zunehmenden
Übergriffe von Japan im Nordosten Chinas, die große
Depression der 1930er und der daraus resultierende
Einfluss auf die Präsenz von Missionaren in China und
der Zweite Weltkrieg, führten schließlich zur Einfüh-rung
der Volksrepublik China 1949 durch den „Großen
Sprung nach vorn“ – bis zum Ende der Kulturrevolution
im Jahr 1977.
Im Jahr 1986 konnte auf wunderbare Weise die
Amity-Bibel-Druckerei in Nanjing eingerichtet werden.
Damit konnten endlich Bibeln ganz offiziell innerhalb
Chinas gedruckt werden. Allein durch Gottes Gnade und
durch sein lebendiges Wort ist es möglich geworden,
dass seither 200 Millionen Bibeln in dieser Druckerei
gedruckt wurden – davon 86 Millionen Bibeln für China!
Wäre die Chinese Union Version nicht zu jenem Zeit-punkt
veröffentlicht worden, hätte es vermutlich sehr
lange gedauert, bis so ein Projekt umzusetzen möglich
geworden wäre. Doch diese großartige Arbeit bezeugt
die Zusage, die Jesaja vor weit mehr als 2000 Jahren
gesprochen hat.
Nachdem die Chinese Union Version einmal veröffent-licht
war, hat sie in den letzten hundert Jahren behutsam
und in ihrer eigenen, erfrischenden Art den großen Durst
der gläubigen Menschen in China wie in der Diaspora
gestillt. Den chinesischen Kirchen überall auf der Welt
wurde die CUV zu treuen Händen anvertraut – für diese
und auch für zukünftige Generationen, um sie „zu hören
und zu lesen, von ihr zu lernen und ihre Botschaft sich zu
Herzen gehen zu lassen“.
Übersetzung: Ruth Duschet
Dr. John Chew ist emeritierter
anglikanischer Erzbischof von
Singapur und Südost-Asien. Er
lehrte an Theologischen Hoch-schulen
und ist Berater der UBS
China Partnership.