Lieber Mensch,
lieber Freund, der sich zu selten einer solchen Freundschaft bewusst ist,
lieber Bekannter, der manche Bekannten schon wieder ein ganzes Jahr nicht
angerufen hat,
lieber Mensch, der Du die Weihnachtsgeschenke wieder beim Onlinediskonter
gekauft hast, obwohl Du weißt, dass der aus Gier seine Mitarbeiter quält,
der Du aber eben die Geschenke schnell erledigen wolltest, der Du am Tag vor
Heilig Abend in der Kassaschlange stehend den Weihnachtszwang verurteilst
und ab sofort unbedingt eine Liste führen willst, auf der Du übers Jahr die
wirklichen Wünsche Deiner Lieben sammelst, der Du überhaupt gerne öfter im
kleinen Laden ums Eck kaufen würdest, der Du dem Bettler nichts gibst,
weil vielleicht eine verbrecherische Organisation dahinter steckt, und dem
Obdachlosen zwei Euro nur mit dem Hinweis, er dürfe damit keinen Alkohol
kaufen, statt ihn auf Bier und Würstel einzuladen,
Mensch, der Du so viele Leserbriefe, Proteste, Gegenkommentare, Meinungen
und Standpunkte heuer wieder nur formulieren wolltest, der Du bei den
Flüchtlingsdramen betroffen bist, Dich aber manchmal beim Gedanken
ertappst, dass ja wirklich nicht alle in unser Land können, da hat der Dings
schon recht, der Du Hunger, Krieg, Rassen- und Religionshass auf der Welt
hinnimmst und Dich gelegentlich nicht einmal ordentlich darüber informierst,
der Du mit einer Spende Dein Gewissen beruhigst und zu Weihnachten
hundert Euro gibst, obwohl Du tausend geben kannst, der Du Dir viel mehr
Menschlichkeit leisten könntest und weißt, dass sich die Welt viel mehr
Menschlichkeit leisten könnte, der Du dich fragst, wieso vor hundert Jahren
Menschen verfolgt wurden, erfroren, verhungert sind, und sich bis heute
nichts daran geändert hat.
Lieber Mensch, dem der Gedanke, dass man dagegen eben nichts tun kann,
täglich den Verstand rettet, der Du auch heuer nicht aufgestanden bist,
Dich nicht aufgelehnt hast, wie es die Privilegierten in der Geschichte
manchmal getan haben, um gegen Unrecht, für Frieden und eine bessere Welt
zu kämpfen, wie die Könige, die zum Flüchtlingspaar in einen Stall kamen.
Mensch, der Du nicht leugnen kannst, privilegiert zu sein, der Du in der
Weihnachtsgeschichte einer der Könige gewesen wärst, lieber Mensch!
Es geht mir wie Dir.
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Text: Axel Halbhuber